Schwul in Gagausien: Wenn man der Einzige im Land ist, der sich traut

VON LEONIE RUHLAND

 

Die Straße in den Süden des Landes ist holprig. Mit kleinen Schlenkern weicht der Fahrer den Schlaglöchern aus. Andrey Kolioglo sitzt auf dem Rücksitz, die Hände auf dem Schoß, aufrechter Rücken. Obwohl der Wagen so wackelt. Am Fenster vorbei zieht ein Esel einen Karren, der meterhoch mit Heu beladen ist. Kleine Kapellen, deren Kuppeln in der Sonne golden glänzen, Pfirsichplantagen, in denen er als Kind gearbeitet hat. Er reibt seine schmalen Hände. Eine Schweißperle klebt an seiner von Akne vernarbten Stirn. „Wenn die Leute die Möglichkeit gehabt hätten, hätten sie mich getötet.“

 

Er wird stiller, je näher er seinem Dorf kommt. Er, der sonst so gern redet. „Ich bin auf Gewalt vorbereitet. Auch auf Steine.“ Er war nicht mehr in seinem Heimatort, seitdem das passiert ist, seitdem dort jeder seinen Namen kennt. Seitdem sein Vater ihm über Skype mit Schlägen gedroht hatte.

 

Andrey Kolioglo wurde vor 24 Jahren in Copceac geboren, einem Dorf der moldauischen Region Gagausien. Aufgewachsen ist er in einem Häuschen aus Schwarzerde, innen mit Lehm und Stroh abgedichtet, darüber ein Wellblechdach, Türen und Fenster blau gestrichen. Hier leben Hühner und ein Hund, der, seit Andrey denken kann, im Garten angekettet ist. Und sein Vater, Iuri Kolioglo, als Einziger seiner Familie. Seine Mutter arbeitet als Haushälterin in der Türkei, seine Schwester studiert in Moldaus Hauptstadt Chișinău. Beide haben sich vom Vater abgewandt. Der Vater, 52 Jahre alt, ist Veteran des Afghanistankriegs, die Dorfbewohner respektieren ihn. Einige in seiner Familie waren mal Bürgermeister. Früher arbeitete er auf dem Bau. Auch heute zieht er mit seinem Bruder und Neffen ein Haus hoch. Dort will Andrey Kolioglo hin. Um zu erfahren, ob sie noch eine Familie sind. Denn als er vor einem halben Jahr das letzte Mal wegfuhr, wusste der Vater noch nicht, dass sein Sohn schwul ist.

 

Er hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. Als Kind ließ er ihn selten im Garten helfen. „Er sagte gern zu mir, dass ich schwächer bin als die anderen Jungs in der Nachbarschaft. Er mochte es, mich zu erniedrigen, zu sagen, ich sei dumm.“ Er schimpfte, wenn der Junge statt seiner drei Jahre jüngeren Schwester das Geschirr abspülte. In der Republik Moldau müssen Jungs Stärke zeigen, erst recht in Gagausien, im Südosten des Landes. Knapp 135.000 Menschen leben in dem weitgehend autonomen Gebiet. Die Gagausen sind ein Turkvolk mit christlich-orthodoxer Tradition. Osmanische, russische und sowjetische Herrscher haben Spuren hinterlassen. Homosexualität hat in diesem Land keinen Platz.

 

Andrey Kolioglo blieb viel daheim. Er konnte nicht tun, was er wirklich mochte. Er erzählte seinem Vater nicht, dass er lieber Seilhüpfen wollte als kicken. Lieber mit seiner Schwester und ihren Freundinnen Puppen spielen. Nur für sie ging er manchmal in Discos, sonst hätte sie nicht gedurft. Er selbst hatte keine Lust. Was sollte er an einem Ort, an dem er nicht mit Menschen seiner Wahl tanzen durfte? Er galt als Nerd, der keinen Spaß verstand, als Verlierer, weil er keine Freundin hatte.

 

 

Du bist eine Schande für unsere Nation!"

 

 

Andrey Kolioglo, durchschnittsgroß, meist in Jeans und T-Shirt, ist einer, der gern von seinem Leben erzählt. Er drängt sich dabei nicht auf. Wenn er redet, sprechen seine Hände mit. Genauso wie seine Augen, die oft nach oben wandern. Vor allem, wenn er selbst kaum glauben kann, was er da sagt.

 

Er war nicht immer so offen. In Moldau werden Homosexuelle diskriminiert und stigmatisiert. 87 Prozent der Moldauer lehnen Homosexualität ab, heißt es in einer Studie von 2017. Aufgeklärte Menschen gibt es kaum, in öffentlichen Einrichtungen wird Homosexualität nicht thematisiert. Oft denken junge Homosexuelle, mit ihnen würde etwas nicht stimmen. Die meisten halten ihre sexuelle Orientierung deshalb geheim. So wie Andrey Kolioglo. Ständig stand er unter Druck, traute sich lange nicht, mit jemandem darüber zu reden.

 

Anfang des Jahres staute sich der Frust, der ihn seit Jahren plagt. Ein Skype-Gespräch mit einem sehr engen Freund im Ausland gab den letzten Denkanstoß, dass er so nicht glücklich werden konnte. Es ist mitten in der Nacht, als er nach einem Glas Wein mit Wut und Mut im Bauch diese Worte in das russische Facebook-Pendant VK stellt: „Ja, ich mag Jungs und habe sie immer gemocht. Gott hat mich auf diese Weise erschaffen.“ Es sei ihm wichtig, das endlich zu erzählen, weil sein Leben von Moldaus Homophobie vergiftet wurde, weil er das niemand anderen wünsche. Moldau müsse wissen: „Schwule sind unter dir“ und „es gibt keine falsche Orientierung. Es gibt nur begrenzte Ansichten.“

 

Andrey Kolioglo ist Gagause — und schwul. Eine Kombination, die in der Republik Moldau nicht gern gesehen wird. Fotos: Éric Vazzoler
Andrey Kolioglo ist Gagause — und schwul. Eine Kombination, die in der Republik Moldau nicht gern gesehen wird. Fotos: Éric Vazzoler

 

Zu der Zeit lebt er bereits seit einem knappen Jahr in Moldaus Hauptstadt. Sein Post geht aber vor allem in Gagausien viral, bald wissen es alle in seinem Dorf.

 

Auf seinem Bildschirm hört es nicht auf zu blinken. Ständig erscheinen neue Antworten auf seinen Post, viele Privatnachrichten. Stunden geht das so. Andrey läuft nervös in seinem Zimmer auf und ab. Er öffnet schon gar nicht mehr alle. Zu hasserfüllt sind sie.

 

Du solltest im Fluss ertränkt werden. Du bist eine Schande für unsere Nation.

 

Mein Bruder und seine Freunde werden dich bald besuchen kommen. Sie werden dir schon beibringen, hetero zu sein.

 

Wie kannst du dich nicht schämen? Wenn Menschen wie du auf unseren Straßen herumlaufen und unsere Kinder neben dir aufwachsen, was für eine Art Generation haben wir dann? Das sollte nicht erlaubt sein! Denen, die ihn unterstützen, wünsche ich ein Leben in Einsamkeit ohne Kinder und Familienangehörige!

 

Nach diesen Reaktionen traut er sich lange nicht mehr auf die Straße. Was, wenn sie ihm auflauern? „Heißblütig wie türkische Fans beim Fußball“, beschreibt er seine Landsleute. „Ich hatte echt verdammt Angst.“

 

Er sucht Hilfe bei Genderdoc, der „Schwulen-Kirche“, wie er sie nennt. Diese NGO ist die einzige Anlaufstelle in Moldau für Menschen, die nicht heterosexuell sind oder sich nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen (auch LGBTQI*). „Die Situation in Moldau ist ganz und gar nicht Regenbogen“, sagt Anastasia Danilova, Geschäftsführerin von Genderdoc. Sie kann sich noch gut daran erinnern, dass Andreys Post durch die Decke ging. „Er war unglaublich nervös, hatte die Intensität der Reaktionen nicht erwartet. Wir alle hatten das nicht.“ Da sich der Post immer weiter im sozialen Netzwerk verbreitete, musste er sich entscheiden: entweder verstecken oder komplett an die Öffentlichkeit gehen. Er wählte die Offensive. „Ich habe realisiert, dass das unglaublich wichtig ist. Ich kann nicht darauf warten, endlich mein Leben richtig leben zu können.“ Außerdem gehe es jetzt nicht mehr nur um ihn.

 

 

„Fără Frică“ keine Angst

 

 

Zwei Monate nach dem Outing, wenige Tage vor der Fahrt nach Copceac, steht Andrey Kolioglo in schwarzen High Heels in seinem kleinen Zimmer im nördlichen Stadtteil Chișinăus. Hier wohnt er gemeinsam mit drei anderen Jungs und seiner Katze „Fără Frică“, benannt nach dem Slogan des letzten LGBTQI*-Festivals: „Keine Angst“. Die Sonne scheint durch weiße Strickvorhänge, es riecht ein bisschen muffig. Madonnas „Vogue“ klingt dumpf aus einem Laptop. Auf Russisch zählt er den Takt mit, dreht sich nach links, nach rechts, streckt ein Bein zur Seite, die Hüfte leicht ausgestellt. Neben ihm kopieren seine Freunde Yuki und Taras die Bewegungen. Auch Taras trägt High Heels, gute vierzehn Zentimeter hoch, rot-grün-silber glitzernd. Immer wieder muss Andrey eine lockere Diele zurück an ihren Platz stecken, die unter den Tanzschritten aus den Fugen gerutscht ist. Yuki stößt sich zweimal den Kopf an der niedrigen Decke. Einen Trainingsraum können sie sich nicht leisten.

 

Die drei Freunde üben einen Tanz, den sie auf der Abschlussparty des diesjährigen „Moldova Pride Festivals“ aufführen. „Wir wollten etwas total Queeres machen“, sagt Andrey und freut sich. Das heißt für ihn: enge Shorts, Strumpfhose, viel zu hohe Pfennigabsätze. Heute bewegt er sich das erste Mal in ihnen. Taras, schwarzes Shirt und Kreuzanhänger am Ohr, der auch zu Hause auf Heels läuft, zeigt ihm, wie. Andrey ist ein Naturtalent. Ob sein Vater das auch so sehen würde? Seine Augen wandern an die Decke. Er schmunzelt. Wahrscheinlich nicht. Später muss er noch zu einem Videodreh. Er ist Teil einer Werbekampagne für den Pride. Bei der Eröffnung darf er die Regenbogenflagge hissen, eine Ehre für ihn.

 

 

Wenn ich mich später nicht schämen möchte, muss ich das jetzt tun."

 

 

Andrey ist jetzt berühmt. Jedenfalls fühlt er sich so. „Das ist so verrückt“, er streckt seine flachen Hände vor sich, dreht seine Augen Richtung Decke. „Jeder will etwas von mir wissen.“ Sämtliche moldauische Medien haben seine Geschichte aufgegriffen, die Meinungen sind kontrovers. Inzwischen gibt er auch für die internationale Presse Interviews. Kein Problem für ihn, er ist inzwischen „super duper open. Wenn ich mich später nicht schämen möchte, muss ich das jetzt tun.“ Für die Interviews opfert er manchmal auch Arbeitsstunden – und damit Gehalt. Er arbeitet als Gebühreneintreiber für einen Fernsehsender. Aber das ist ihm nicht so wichtig. Das sei ohnehin langweilige Arbeit. Er habe jetzt eine andere Verantwortung. Er will ein Vorbild sein. „Das ist jetzt mein Job. Ich muss so viele Gespräche führen. Dann denke ich: Oh mein Gott, was passiert da mit Moldau?“

 

Die Freunde Taras, Yuki und Andrey werden bei der Abschlussparty des moldauischen Gay-Festivals einen Tanz aufführen. Fotos: Éric Vazzoler
Die Freunde Taras, Yuki und Andrey werden bei der Abschlussparty des moldauischen Gay-Festivals einen Tanz aufführen. Fotos: Éric Vazzoler

 

Angekommen in Copceac, steigt er vorsichtig aus dem Wagen, der außer Sichtweite des Familienhauses steht. Er geht ein paar Schritte und öffnet ein grünes Stahltor mit weißen Mustern, das in einen Garten führt. Ein braun gebrannter, kleiner Mann mit grauem Schnauzer und verblichenem Arbeiterhemd kommt zögernd aus der Ecke des Gartens. Er schaut wortlos zu, als Andrey von Cousins und Cousine umarmt wird. Dann steht er vor seinem Sohn, nimmt seine Hand, packt richtig zu und wirft die Arme um seine Schulter. Er lächelt, um seine Augen bilden sich feine Lachfalten.

 

Eine Weile steht Andrey orientierungslos inmitten seiner Familie. So viel Herzlichkeit hatte er nicht erwartet. Alle wollen wissen, wie es ihm geht. Der Onkel holt selbstgebrannten Wein aus dem Keller, wie es der Brauch verlangt, reicht er ihn in einem kleinen Schnapsglas herum. Sie zeigen ihm die vielen Kaninchen, die sie züchten, und wie das Haus aussehen wird, das sie gerade bauen.

 

Später stehen er und sein Vater etwas abseits, sie reden eine Weile miteinander. Der Vater lächelt seinen Sohn an, wenn auch zurückhaltend. Als wäre er sich nicht ganz sicher, wie er sich verhalten soll. Er sagt, er könne noch immer nicht akzeptieren, dass Andrey schwul ist, sie hätten andere Traditionen. „Aber an erster Stelle ist er mein Sohn.“

 

Andrey glaubt, sein Vater habe es immer schon gewusst. „Er hat nur nie gewagt, mit mir darüber zu reden.“ Aber er glaubt auch, dass noch etwas anderes dahintersteckt: „Mein Vater hat jetzt nur noch mich“, sagt er auf dem Rückweg nach Chișinău. „Vielleicht ist ihm alles andere nach dem Krieg nicht mehr so wichtig.“

 

Er ist erleichtert. „Ich habe heute etwas gelernt: Deine Ängste sind größer als die Realität. Du solltest dich vor nichts verstecken.“

ANDREY KOLIOGLO

WAS WÜNSCHEN SIE SICH FÜR DIE ZUKUNFT?

 

HINTER DER RECHERCHE:

 

LGBTQI* – gibt es eine Szene in Moldau? Wie ist ihre Lage im Land, mit welchen Problemen hat sie zu kämpfen? Ich traf mich vor Ort mit einigen Menschen – schwul, trans, lesbisch – und lernte schließlich Andrey kennen. Er war ein dankbarer Protagonist, nahm mich überall hin mit, war stets „super duper open“. Erst der Ausflug nach Gagausien hinterließ mich nachdenklich: Welche Verantwortung trage ich? Was hätte ich getan, wenn Gewalt eintritt? Ich bin froh, dass alles so glimpflich verlief, denn bis heute habe ich keine klare Antwort darauf. Vielleicht gibt es die so auch nicht.

 Drama im Bunker

Nicoleta Esinencu wird für ihre kritischen Theaterstücke geschätzt – im Ausland. In ihrer Heimat dagegen kaum beachtet

 

Weiterlesen...

Vor dieser Frau haben korrupte Männer Angst

Maia Sandu ist die Hoffnung der Republik Moldau. Die beliebte Politikerin könnte demnächst das Land regieren.

 

Weiterlesen...

 


WIR DANKEN:

Edita Badasyan, Ulrich Bausch,

Natalia Ciubarov, Mila Corlateanu,

Constanta Dohotaru, Dmitri Elnic,

Gabriel Encev, Andrew Ghilan, Ana Gurdish, Stefan Junger, Ilkay Karakurt,

Philipp Maußhardt, Carline Mohr,

Ghalina Niculita, Alena Petelina,

Bernhard Riedmann, Sorina Stefarta,

Éric Vazzoler, Roxanna Werter, Tilman Wörtz

und den Mitgliedern der Advanced

School of Journalism Chișinău.


 

Illustration: Jana Kreisl