VON FRANZISKA JÄGER
Als Andrei Smolensky aus seinem schwarzen SUV steigt, erinnert er mehr an einen Bodyguard als an einen Touristenführer: Sonnenbrille, militärischer Kurzhaarschnitt, muskulöser Oberkörper unter einem engen Hemd, kurze Jeansshorts, die Tasche geschultert, die Beine gestreckt. Smolensky signalisiert: Ich bin bereit! Bereit für Annette und Lars, ein deutsches Ehepaar, das ihn als Tourguide durch sein Land gebucht hat. „Willkommen in Transnistrien“, sagt Smolensky in perfektem Deutsch. Der schwere russische Akzent wirkt eher wie ein willkürlich aufgesetztes Accessoire.
Sechs Stunden lang wird der 33-Jährige die Besucher durch Transnistrien führen. „Sowjettour“ heißt die Route. Smolensky wird kein Denkmal auslassen.
Auch die Kameras von Annette und Lars sind bereit. Mehr als fünfzig Länder hat das Paar aus Baden-Württemberg, beide Mitte vierzig, schon bereist. Warum Transnistrien? „Vor Kurzem kam im Fernsehen ein Bericht über die zehn seltsamsten Orte der Welt. Da war Transnistrien dabei“, sagt Lars. „Vorher wussten wir gar nicht, dass es Transnistrien überhaupt gibt“, sagt Annette.
Erste Station: der Friedenssoldat in Bender, zweitgrößte Stadt Transnistriens am Ufer des Dnister, kurz hinter der Grenze zur Republik Moldau. Eine Siedlung aus grauen Plattenbauten. Mittendrin thront auf einem Sockel ein Soldat aus Bronze, doppelt so groß wie Smolensky. Neben dem Krieger ist das Relief eines Jungen in den Sockel gemeißelt, unterm rechten Arm hält er einen Fußball, mit der linken Hand wirft er dem Soldaten ein Papierflugzeug zu. Der Soldat hält die Linke an sein Herz, in seiner Rechten ruht eine Taube.
„Die Russen haben uns den Frieden gebracht."
„Wo wir sind, ist Frieden“, liest Smolensky von einer Tafel ab. „Diese Statue ist den russischen Friedenssoldaten gewidmet. Ohne sie würde es Transnistrien nicht geben.“ Der Fremdenführer steht mit stählernem Kreuz vor dem Soldaten, zupft sein Hemd zurecht. Die Brust weit gewölbt, holt Smolensky zu einer längeren Erklärung aus: Als die UdSSR 1990 zerfiel, forderte ein Teil der Bewohner von Moldau, mehrheitlich Russen und Ukrainer, einen eigenen Staat. Der Konflikt eskalierte in einen sechswöchigen Bürgerkrieg, der mehr als tausend Tote forderte. So entstand Transnistrien, östlich des Flusses Dnister. 200 Kilometer lang, an manchen Stellen nur zehn Kilometer breit. „Die Russen haben uns 1992 den Frieden gebracht“, sagt Smolensky.
Lars schraubt das Teleobjektiv auf seine Kamera, Annette filmt die Statue mit dem Camcorder ab.
Zweite Station: das Kulturhaus von Bender, ein Paradebeispiel sowjetischer Architektur. Ein massiver Bau in hellbraunem Klinker mit langen Fenstern, flankiert von zwei weiteren Betonklötzen. Auf der Fassade das Bild eines Mädchens in weißer Bluse und rotem Rock, ein Junge spielt Blockflöte. Im Hintergrund die transnistrische Flagge: rot, grün, rot, Hammer und Sichel. „Das ist weltweit einzigartig“, sagt Smolensky mit Stolz.
Jede Woche treffen sich hier Politiker der Republik Moldau und Transnistriens zu den Fünf-plus-zwei-Verhandlungen.
„Muss das sein?“, fragt Lars. „Die ändern doch nicht jede Woche ihre Meinung.“
„Muss es!“, antwortet Smolensky in einem Ton, der keine Zweifel zulässt. „Um Vorfälle zu besprechen.“
„Was für Vorfälle?“
„Nun, es passiert nichts, weil wir uns jede Woche treffen.“
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Drei Denkmäler weiter. Annette und Lars schauen sich einen Obelisken am Fluss an. Währenddessen setzt sich Smolensky hinter sein Steuer, öffnet das Handschuhfach und zieht ein Buch von Albert Allas hervor. „Der zweitwichtigste Psychologe in Amerika“, sagt Smolensky. Seine Leidenschaft gilt der Literatur, vor allem aber der deutschen Sprache. In den Schulferien übersetzte er alle Bücher, die ihm seine Lehrerin für die Sommerferien mitgab. Während andere Kinder im Hof oder im Stadion spielten, trichterte sich der kleine Smolensky Deutsch ein. Von der Aufnahmeprüfung zur Universität war er schriftlich befreit, weil er im Deutschaufsatz den zweiten Platz des nationalen Wettbewerbs belegt hatte.
Drei Monate hat er in Freiburg studiert. „Der Name gefiel mir so gut“, schwärmt Smolensky. „Frei!“
Bis 2011 hat er beim transnistrischen Radio eine deutschsprachige Sendung moderiert. In die ganze Welt strahlte sie aus. Wozu? Um die Informationsblockade Moldaus gegen Transnistrien zu durchbrechen, hieß es damals. Doch als die staatliche Förderung der Auslandsredaktion eingestellt wurde, nutzte Smolensky seine Sprachkenntnisse. Er wurde zum einzigen Fremdenführer dieses Fantasiestaats, der neben Russisch, Englisch und Rumänisch auch Touren auf Deutsch und Schwedisch anbietet. Seit 2014 lockt er Besucher aus aller Welt in sein Land. Die meisten kommen aus Großbritannien, gefolgt von Deutschland. Auf seinem Internetauftritt schlachtet er Transnistrien aus: Sowjettour, klassische Tour von Nord nach Süd, Störzuchttour, Biertour, selbst eine Sporttour ist im Angebot, bei der sich Besucher an original sowjetischen Turngeräten ertüchtigen können. Fotos zeigen einen Touristenführer mit nacktem, behaartem Oberkörper und wuchtigen Armen.
Mit Annette und Lars auf der Rückbank steuert Smolensky die 16 Kilometer entfernte Hauptstadt Tiraspol an. Vor ihm klappern in die Jahre gekommene Ladas und Busse, die über Stromabnehmer mit der Oberleitung verbunden sind. Breite Straßen winden sich durch die Innenstadt, nur wenige Autos sind unterwegs. Hin und wieder taucht ein Panzer auf einem Sockel auf. Senioren mit Rucksack und Wanderschuhen stehen davor und fotografieren sich gegenseitig. Die Fassaden der zweigeschossigen Häuser sind frisch getüncht, die Bordsteine weiß gestrichen, die Bürgersteige lückenlos gepflastert. Nirgendwo liegt Abfall herum, keine Kippen, kein Papier.
Adrett gekleidete Frauen eilen zur Mittagszeit in die Bistros. Einige von ihnen hat Jana frisiert. Smolenskys Frau arbeitet als Friseurin. Für sie sei Tiraspol ein Kaff, sagt er. Alle Kundinnen würden immer nur dasselbe wollen: pompöse Hochsteckfrisuren. Viel Schminke im Gesicht. Jana sei eher der natürliche Typ. Sie möchte weg aus Transnistrien. Am liebsten nach Chișinău, ausgerechnet in die moldauische Hauptstadt. „Sie kann gehen. Jederzeit“, sagt Smolensky. „Aber dann sind wir nicht mehr zusammen.“
Lenin wacht mit wehendem Mantel
Die Reisegruppe fährt am Dom Sowjetow vorbei, dem Rathaus von Tiraspol. Oben drauf ein roter Sowjetstern. Zuckerbäckerstil. Nächster Halt: Außenministerium. Die Räume im Erdgeschoss sind leer. „Sieht aus wie eine Villa, oder?“, fragt Smolensky. Die Besucher schweigen.
„Transnistrien wird zwar von keinem anderen Land der Welt anerkannt, aber wir haben sehr wohl diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten.“ Auf dem Rasen vor dem Außenministerium wehen die Fahnen von Abchasien, Berg-Karabach und Südossetien im Wind. Staaten, die nur von Russland anerkannt werden.
Weiter geht es über die Karl-Liebknecht-Straße, vorbei an der Uliza Marxa, Uliza Puschkina, Uliza Lenina und hinein in die Uliza 25. Oktober, eine sechsspurige Aufmarschallee. Vor dem gewaltigen Palast der Republik wacht Revolutionsführer Lenin mit wehendem Mantel auf einer Stele. Eine zwanzig Meter hohe, auf Hochglanz polierte Statue. „Tiraspol sieht aus wie eine übriggebliebene Taschenausgabe der Sowjetunion“, sagt Annette.
Smolensky lacht, ignoriert den Kommentar. „Ich prognostiziere, dass Transnistrien in den nächsten zehn Jahren immer bekannter werden wird. Die Ukraine zerstört Sowjetdenkmäler in Russland. Aber wir bleiben ein pseudokommunistischer Staat, unsere Straßen werden nicht umbenannt. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr Lenin-Statuen als hier. Seit 28 Jahren gibt es Transnistrien offiziell auf keiner Landkarte, aber wie ihr seht, es gibt uns!“
Annette drückt den Aufnahmeknopf.
150 Touristen kommen laut Smolensky jedes Jahr nach Transnistrien. 20 bis 60 Euro verdient der Tourguide pro Besucher. Bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von 200 Euro gehört Smolensky damit zu den Großverdienern.
Wenn Andrei Smolensky nicht redet, singt er hinter dem Steuer. Am liebsten sowjetische Lieder. Sein Mund öffnet sich dann groß, er holt tief Luft und fährt seine Lippen nach vorne aus. Sein Kehlkopf vibriert: Ti menja lubisch, lepisch twarisch malujesch. „Mir gefällt die Schwermütigkeit in diesem Lied, es geht überhaupt nicht um Politik.“ Seit drei Monaten nimmt er Gesangsunterricht. Seine Frau habe zwar nichts gegen das Singen, aber dass ihr Mann 24 Stunden am Tag singt, stört sie doch. „Kennt ihr Blumentopf?“, fragt Smolensky. „Und Freundeskreis?“ Dann legt er los: „Immer wenn es regnet, muss ich an dich denken, a-n-n-a.“
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Heute Abend wird er wieder zu Olga gehen. Sie ist seine Gesangslehrerin. Smolensky wird sein Hemd ausziehen, im Muskelshirt vor Olga stehen und tief einatmen. Er ist dann nicht mehr Smolensky, der Patriot, sondern Andrei, der kindliche Vorzeigeschüler. Mit dem Hemd legt er auch seine Hülle ab. Der Körper bleibt dennoch gestreckt, der Brustkorb bläht sich auf, Smolenskys rechte Hand umschließt fest das Mikrofon, die linke hält den Text, in dem Frank Sinatra sein erfülltes Leben preist und auf allen Straßen der Welt seinen Weg geht:
I've lived a life that's full, I've travelled each and every highway. But more, much more than this, I did it my way.
Olga wird Kopf und Lippen wie als Bestätigung mitbewegen. Ihre Arme ausbreiten. „Maximalni emozioni“, wird sie fordern.
Die Stimme von Smolensky wird das Schulhaus durchdringen. Vibrieren. Ohne Brüche. Wird alle Starre abschütteln. Die Luft wird durchzogen sein von schwerer Romantik, Liebesschmerz und Leidenschaft.
Olga wird zufrieden lächeln, sich mit den Fingern über ihren Arm fahren, auf dem helle Haare zu Berge stehen.
„Du musst dem System gegenüber loyal
sein."
Smolensky sagt, die Musik helfe ihm, seine fehlende emotionale Seite zu kompensieren. Er gehe zu rational durchs Leben. Vielleicht kann er gar nicht anders in diesem Staat. Ein Staat, an dessen Image der russische Geheimdienst kratzt. Ein Staat, in dem der KGB nachfragt, wenn Ausländer auf der Straße Einheimische interviewen. Ein Staat, in dem Smolensky an manchen Tagen mit Paranoia durch die Straßen gehe. „Das System stellt eine bestimmte Forderung an den Bürger. Wenn du hier bleiben möchtest, musst du dem System loyal sein. Du musst dich anpassen.“
Nach sechs Stunden parkt Smolensky ein letztes Mal. Wieder ein grauer Betonklotz. Auf dem überdachten Eingang steht „Hotel“ in leuchtenden Lettern. Hier endet die Tour. „Wir gehen davon aus, dass du keine Quittung hast“, ruft Annette von hinten. „Deshalb haben wir schon eine vorbereitet, du musst nur noch unterschreiben.“
„Ich glaube, die sind ein bisschen spaßlos“, murmelt Smolensky und grinst, nachdem er die Gäste zur Rezeption gebracht hat. „Ich bin spät dran, Olga wartet.“ Der Touristenführer drückt aufs Gas. Sein Auto hat noch ein transnistrisches Kennzeichen. Das könnte zum Problem werden, wenn seine Tochter in der Schweiz studiert, was er sich für die achtjährige Leja wünscht. „Dort macht der Mensch vom System Gebrauch“, sagt Smolensky. „In Transnistrien ist es umgekehrt.“
Wenn es so weit ist, wird er die Tochter besuchen können. Ab September bekommen die Autos neutrale Kennzeichen, mit denen ist die Einreise nach Europa erlaubt. „Falls ich dann in der Schweiz zu schnell fahre und erwischt werde, sage ich einfach: Transnistrien? Das gibt es doch gar nicht.“ |
ANDREI SMOLENSKY,
WAS WÜNSCHEN SIE SICH FÜR DIE ZUKUNFT?
HINTER DER RECHERCHE
Ein Fantasieland eigentlich – Transnistrien. Als ich recherchierte, stieß ich auf Andrei Smolensky, den einzigen Touristenführer in diesem nicht anerkannten Staat. Zumindest der einzige, der die deutsche Sprache beherrscht. Ich fand das kurios. Auch die vielen Berichte über ihn. Alle zeigten dasselbe Bild: Andrei, der Patriot. Der stolze Reiseführer. Der Alleskönner, der gut gelaunte Russe, der immer einen Witz auf Lager hat. Ich war sicher, da ist noch ein anderer Andrei. Einer, der nicht alles so toll findet, wie er immer sagt. Diesen Andrei wollte ich kennenlernen. |
Die Republik Moldau hat 430 Meter Zugang zum Meer. Und die kontrolliert ein Deutscher
Der Donauhafen von Giurgiulești soll Wohlstand bringen. Doch an den Dorfbewohnern ziehen die Gewinne vorbei wie die LKW, die hier täglich durchbrettern.
Ein Zug fährt ins Nirgendwo
Wer mit Zug durch die Republik Moldau fährt, braucht starke Nerven: Im Abteil gackern die Hühner und draußen zieht das Leben vorbei.